Hier draussen im Wald habe ich die Gelegenheit, mir Zeit zu nehmen, ausgiebig durch den Wald zu streifen – meistens natürlich auf Wegen, um die natürlichen Verhältnisse nicht zu stören. Manchmal aber gehe ich auch ins Dickicht, um unmittelbar das Leben im Wald wahrnehmen zu können. Ich setze mich dann ins Moos unter einen der mächtigen Buchen- oder Tannenbäume und schaue, höre, spüre, rieche. Eni ist dabei meine treue Begleiterin. Und gerade dann, wenn ich mit ihr unterwegs bin, merke ich, wie langsam mich das Leben im Wald hat werden lassen. Ich gehe langsamer – nicht, weil ich etwa müde geworden bin. Ich spüre, dass ich Kraft habe, auch wenn mein Körper hier viel weniger oft nach Nahrung ruft als im sonstigen Alltag. Hier draussen habe ich keine Termine, keinen Stress, keinen Leistungsdruck, habe Zeit, zu sein.
Eni hält meine Langsamkeit manchmal sogar fast nicht aus. Sie springt freudig und kraftvoll beim Spazieren voraus, dreht sich um und muss feststellen, dass ich ihrem Tempo nicht folge. Sie wartet, kommt mir entgegen, um mich zu holen und flitzt dann wieder los. Die Zeit, die ich durch diese besondere reduzierte Lebensweise im Wald geschenkt bekomme, ermöglicht mir Langsamkeit. Vielleicht drückt es das Wort «Bewusstheit» besser aus?! Ich setze beim Gehen ganz bewusst seinen Schritt nach dem anderen. Was ich tue, versuche ich, in voller Bewusstheit zu tun. Wenn ich gehe, gehe ich. Wenn ich rede, lasse ich mich auf mein Gegenüber ein und denke dabei nicht schon wieder daran, was ich nachher noch alles zu tun habe. Diese Bewusstheit begegnet mir in der Natur ständig. Wenn ich mir die beeindruckenden alten Bäume anschaue oder den zarten Jungwuchs, wenn ich den Ameisen bei der Arbeit zusehe und dem Wasser beim Fliessen, überall erlebe ich, dass sich Leben auf das Hier und Jetzt konzentriert. Und ich merke, dass mir das in meinem Alltag häufig fehlt.
Vielleicht haben das auch Columban und Gallus gesucht, als sie dem «Ruf der Wüste» gefolgt sind und sich dann durch die Texte der sogenannten Wüstenväter dazu inspirieren liessen, von ihrem bequemen und getakteten Klosterlebe mit Gott in der Zurückgezogenheit der Wildnis zu finden. In der Wildnis, die einen zu einer Bewusstheit, zu einem Leben im Hier und Jetzt inspiriert, anleitet, ja sogar zwingt.
Ganz lebenspraktisch lässt mich die Langsamkeit, die Bewusstheit im Wald mehr erleben. Weil ich mir hier langsam und respektvoll bewege, fliegt der scheue Habicht, der auf dem Wanderwegschild zur Waldegg am Abend im Schein der untergehenden Sonne ein Päuschen einlegt, nicht sofort auf. So wird mir der Moment geschenkt, ihn kurz zu beobachten, bevor er majestätisch seine Schwingen ausbreitet und sich dann ins Dunkel des Waldes gleiten lässt.
Es tönt so logisch: Bewusstheit lässt bewusster leben 😉 Langsamkeit lässt mich neu erleben, dass alles im Leben seine Zeit hat und seine Zeit braucht. So auch der Holder, der jetzt erst im Wald in voller Blütenpracht steht. Nicht alles gibt es zu jeder Zeit. Auch das Wachstum und die Jahreszeiten in unseren Breitengraden sind nicht jedes Jahr gleich. Ich lerne hier draussen jeden Tag mehr. Zeit ist da, aber unverfügbar. Nicht ich bin Herr meiner Zeit, aber ich kann sie mir nehmen. Das tue ich und bin dankbar.
